KLEINE REGELKUNDE
 

Die regula war ein Messwerkzeug im alten Rom. So wurden die markierte Stäbe und gespannte Schnüre der Baumeister und Handwerker bezeichnet, ebenso das Kerbholz der Schankwirte, auf dem die geleerten Krüge vermerkt wurden. Die regula diente dazu, Wissen zu erlangen und Informationen zu speichern. Gleichzeitig bestimmte sie, was angemessen und richtig war. Sie beschrieb die Wirklichkeit und gestaltete sie. Einfache Bürger hielten sich an die regula, die vornehmen gaben sie aus. Das ist der Ursprung unseres Wortes Regel.

Regeln bestimmen unser Leben von der Wiege bis zur Bahre. Unsere Körper gehorchen biologischen Regeln in einer Welt voller physikalischer Gesetze und gesellschaftlicher Konventionen. Regeln begegnen uns in Gesetzestexten, organisieren den Straßenverkehr und ermöglichen Fußballspiele. Es gibt Tischregeln, Anstandsregeln und Baderegeln. Ob Sie nun einen Walzer schieben oder Pogo tanzen; ob Sie ein Gourmetgericht kochen oder eine Dose Ravioli heiß machen; ob Sie konzentriert arbeiten oder einfach mal nichts tun: stets befolgen Sie Regeln. Was ermöglicht es Ihnen, diese Zeilen zu lesen? Richtig! Regeln.

Regeln wirken auf zweierlei Weise. Bestehende Regeln legen fest, was etwas ist, wo es beginnt und wo es aufhört, was es macht und wie es funktioniert. Sie sind die Basis von Wissenschaft und Technik. Sie bestimmen unsere Rolle im Leben, geben vor, wie wir uns in einer gegebenen Situation verhalten und beschreiben unsere Vorlieben und Eigenheiten. Anhand von Regeln definieren wir unsere Welt, fällen Urteile, treffen Entscheidungen, erheben Ansprüche und hegen Erwartungen. In diesem Sinn sind Regeln Maßstäbe und Vorgaben, nach denen wir unser Leben ausrichten.

Gleichzeitig sind Regeln generativ. Sie reflektieren nicht nur die Wirklichkeit, sondern sie erschaffen sie auch. Ein Baumeister, der einen neuen Plan entwirft, errichtet ein anderes Haus. Kultur und Religion, Politik und Wirtschaft sind das Ergebnis menschengemachter Regeln. Veränderte Regeln führen zu einem reiferen Selbstkonzept und angemesseneren Verhaltensweisen. Das Weltbild wird aktualisiert. Plötzlich werden Dinge wahr, die zuvor unmöglich schienen.

Auch in Ihrem Leben sind Regeln bedeutsam. Ihre Gesundheit, Ihr Glück und Ihr Erfolg sind eine Funktion der bewussten und unbewussten Regeln, die Sie befolgen. Die Ergebnisse der Organisation, in der Sie Verantwortung tragen, hängen von den offiziellen und inoffiziellen Regeln ab, die in ihr gelten. Jede Verbesserung erwünschter Leistungen oder Lösung vorhandener Probleme setzt eine Veränderung der Regeln voraus, die den aktuellen Zustand herbeigeführt haben und ihn stabilisieren.

Wenn Sie also etwas ändern wollen, ändern Sie die Regeln! Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Was genau ist eine Regel? Woran erkennt man sie? Welche Regeln gelten für die Bewertung von Regeln? Wie entstehen Regeln, gewinnen Macht, verlieren an Bedeutung und geraten schließlich in Vergessenheit? Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den Gesetzen der Physik und dem Diktat der Mode? Wie kommt es, dass wir manche Regeln befolgen, während wir andere leichtfertig ignorieren? Warum ist es oft so schwer, Gewohnheiten zu ändern, und was kann man dagegen tun? Wie kann man Regeln managen?

Es lohnt sich, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Der Maßstab des römischen Zimmermanns ist ein unscheinbares Instrument aus Holz, doch in ihm schlummert eine gewaltige Kraft. Die regula ist das Zepter der Macht.



 
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